Aus der Kinderstub’ ein Märchen.
Zuckerwerk gesandt vom Bäschen -
war’s ein Jäger und ein Häschen,
war’s ein Schäfer und ein Lämmchen
neben einem Tannenstämmchen?
Nicht mehr weiß ich’s, kurz: ein Männchen
und ein Tierchen bei ‘nem Tännchen.
Und die Mutter sprach dem Ernst,
ihrem jüngsten, zu mit Ernst:
Dieses sollst du nur betrachten,
aber nicht zu essen trachten.
Doch, ihn erst zu prüfen eben,
ward ihm nur das Tier gegeben,
sie behielt den Mann zurücke,
das gereichte dem zum Glücke.
Denn sein Tierchen nahm das Bübchen,
sperrt es in sein Spielzeugschiebchen,
kam dann stündlich zu der Mutter:
Gib mir für mein Tierchen Futter!
Äpfel gab sie ihm und Semmeln,
was nicht Hasen taugt noch Hämmeln,
doch der Futter selber aß es,
meinte stets, sein Tierchen fraß es.
Als nun lang der arme Schlucker
so geweidet seinen Zucker,
und sein Auge dran geweidet,
war ihm diese Lust verleidet.
Er begann es zu belecken,
und es mochte süß ihm schmecken,
und mit einmal war das Köpfchen
ab dem zuckernen Geschöpfchen.
Und wie’s mit dem Haupt gelungen,
war das ganze bald bezwungen.
Als er nun nicht mehr um Futter
kam zu betteln bei der Mutter,
merkte sie, daß was geschehen,
sprach: Laß mich dein Tierchen sehen!
Und der Sünder stand betroffen.
Mutter sprach: ich will nicht hoffen,
daß du’s habest aufgegessen?
"Mutter, nein! doch aufgefressen."
Wie? gleich wilden Raubtierhorden?
"Ja! Ich war zum Wolf geworden;
weil du von dem Wolf doch immer
Abends uns erzählst im Zimmer."
Und du hast es ganz gegessen?
"Nur soviel der Wolf kann fressen,
nur das Tierchen, nicht das Tännchen.
Aber gib mir nur das Männchen,
das will ich bewahren besser."
Mutter sprach: Ein Menschenfresser
willst du werden ungeheuer?
Und das Kind war rot wie Feuer.
Doch sie sprach: Daß wird’s verbessern,
weil ich doch von Menschenfressern
Abends dir auch vorgetragen,
will ich’s Männchen dir versagen,
daß nicht etwa gar, mein Kindchen,
du’s verschlingest samt dem Flintchen.
Oder ob gesagt sie habe,
statt der Flinte: mit dem Stabe;
das kommt darauf an, ob Jäger
es gewesen oder Schäfer.
Friedrich Rückert 1788 - 1866